Christel Hermann – ich bin so frei

Die Arbeit von Christel Hermann bezieht sich auf das Erahnen eines möglichen Verschwindens und zeigt,
wie sich das Sichergeglaubte langsam spurlos auflöst. Die Arbeitsserien dieser Ausstellung zeigen diesen
Wandel als einen Prozess.

Wie frei bin ich in dieser Welt?
Statement

Meine Arbeit ist der Versuch in unserer Zeit der digitalen Kompression meine Sicht von Welt anschaulich zu
machen. In meinem Dasein möchte ich die Welt fassen. Wie ein Lyriker transportiere ich Inhalte, reduziere
sie auf das Wesentlichste und bringe sie auf den Punkt. In der Werkserie „Kaum wahrnehmbar“ versuche ich
eine Atmosphäre der Ruhe und Stille zu vermitteln. Sie sind Gegensätze zu unserer lauten, erlebnisreichen
Zeit. Wir stehen am Anfang eines radikalen Umbruchs unserer Gesellschaft. Allmählich, kaum wahrnehmbar
öffnet sich ein neuer Raum, in dem wir schweben. Nur in der Ruhe erkennen wir das kaum Wahrnehmbare
und das Wirkliche im unabänderlichen Wandel unserer Existenz in der Zeit.

Sören Kierkegaard sagte schon:
„Die Welt ist krank. Wenn ich Arzt wäre, würde ich sagen „Schaffe Schweigen“.

Stille ist vielleicht der größte Luxus. Die ungebremste Produktion von Information und unsere
Aufmerksamkeitskultur sind extensiv, nichts vertieft sich. Stille und Schweigen haben keinen Platz im
digitalen Netz.
Mit meinen stillen leeren Landschaften schaffe ich einen Bildraum zwischen Einsamkeit und
Aufgehobensein. Es ist eine Gratwanderung zwischen Geborgenheit und Verlassenheit. Der Bildkörper
entsteht aus übereinandergelegten, reinen Farbschichten, die ihn mehr und mehr verdichten. Trotz der
Schichtung bleibt eine Transluzenz erhalten. Sie lässt eine vermeintliche Leichtigkeit erkennen und Fragilität
erahnen.

Spuren, die keiner sieht, sind Spuren, die dennoch existent sind.
Prof. Dr. Beate Reifenscheidt

In Christel Hermanns künstlerischem Werk dreht sich vieles um die Substanz der Dinge und nicht zuletzt um
die Wahrnehmung der Werke selbst. Allein schon ihre Ausstellungstitel wie „Zerbrechliche Welten“ (2015),

„Fragile“ (2014), „frei wie ein Vogel frei“ (2012) und „kaum wahrnehmbar“ (2016) künden von einem
Werkverständnis, das um das Wesen der Dinge kreist, das zu Befindlichkeit und Existenz hinführen soll.
Christel Hermann vollführt diesen Weg dorthin mit großer Konsequenz, mit einer ihr natürlichen
Unaufgeregtheit, die sich allein aus den künstlerischen Mitteln, die sie wählt, speist. Sie betreibt dabei einen
Minimalismus in der Wahl ihrer Mittel, die jedoch ganz aus sich selbst sprechen und wirken, um eine eigene
Aura des Gegenwärtig entfalten, die sich ihrerseits jeglicher greifbaren Besitznahme entzieht. Vielmehr
vermag sie es, ein oszillierendes Verhältnis durch das Material selbst herzustellen, das im opaken
Schimmern des Kunstharzes begründet liegt. Spuren von Farbe und das Einarbeiten von Materialien wie
Basaltmehl, Schiefermehl, Muschelkalk, kleinen Fundstücken, die sie einarbeitet, all dies dient der
Vernetzung mit dem irdischen Dasein, mit einem Anker in der Welt. Sie bleiben jedoch wie hingehaucht, wie
nur durch Nebelschwaden gegenwärtig und zugleich ungewärtig. Dieses pendelnde Sein und Nichtsein,
diese gewaltige psychisch schwere Hamlett´sche Existenzfrage schwelt in all ihren Arbeiten. Sie erscheinen
deshalb ebenso als Negation als auch als positives Bejahen des Seins. In all ihren Materialbezügen legt
Christel Hermann somit Spuren ihres Verhältnisses zur Welt, ihrer eigenen Befragung in einer Zeit, die sie
selbst als Zeit der „unendlichen Haltlosigkeit“ empfindet und der sie mit ihren Arbeiten einen eigenen
„Resonanzraum“ entgegenhalten will.

In seiner Gesamtwirkung weist dieses ebenso sacht wie auch beharrlich auf das Verhältnis von Begreifen
und Verstehen hin, auf den Willen, sich die Welt zueigen zu machen. Sinnliche Wahrnehmung ist im Kern
immer wesentlich für ein erweitertes Verstehen der Zusammenhänge, in denen Welt und Kosmos einander
begegnen. Wenngleich Christel Hermann immer wieder danach trachtet, diese Anwesenheit von Sein in der
Materialhaftigkeit ihrer ausgewählten Mittel zu manifestieren, tendiert sie letztlich darüber hinaus und sucht
die Auflösung all dieser Spuren. Dabei treibt sie den Prozess so weit voran, dass er bisweilen nur noch ein
atmosphärisches Schimmern übrig lässt, der mehr Ahnung verspricht als fasslich existent zu sein. Sie kann
dabei in ihren Intentionen zurückgreifen auf die mittelalterliche Scholastik, auf Thomas von Aquin, der sich in
seinem Gottesbeweis ausführlich mit der Welt des Sichtbaren und des Unsichtbaren – gleichwohl aber
existenten – auseinandergesetzt hat. Er zeigt dabei eine enge Beziehung zwischen den tatsächlichen
Dingen und der Erkenntnis über sie durch den Intellekt auf – adaequatio rei et intellectus. Ein Schlüssel zum
Verständnis seiner Lehre ist die Seele, die an sich körperlos sei, aber gleichwohl existent. Seele und
Verstand sind bei ihm eng mit einander verknüpft, bilden eine Einheit, weshalb der Verstand ebenso wie die
Seele selbst sich auch noch mit jenen Dingen auseinandersetzen können, die nicht sichtbar sind. Seiner
Annahme nach sei in allen geschaffenen Dingen Wesen (essentia) und Existenz (esse), die von einander
unterschieden werden. Nur bei Gott würden diese beiden Seinszustände ineinanderfallen.
Auch wenn man Christel Hermanns Werke nicht als religiös motiviert ansehen muss, so tragen sie doch eine
große geistige Kraft in sich und suchen nach diese geradezu in Gratwanderung erlebbaren Formulierung des
Gespürten, des Geahnten, aber des letztlich mit Worten oder mit Bildern nicht Sag- bzw. Abbildbarem. So
will es fast scheinen, dass selbst die minimal eingesetzten Materialien fast noch zu vordergründig für all das
sind, was in Geist, Seele und Vorstellung bei im künstlerischen Konzept möglich erscheinen. Christel
Hermanns Aufspüren des Wesens der Dinge ist letztlich das Überwinden der Dinge selbst, um zur
eigentlichen Existenz des Wesens vorzudringen. Gerade dass erscheint neben der poetischen, stillen
Anmutungen ihrer Werke eine gelassene Antwort auf vieles zu sein, was die in Untergangsszenarien sich
gebärdende Welt von heute allzu oft aus den Augen verliert.

Homepage:
www.christel-hermann.de